D. Sauerländer: Die Reformation in den Freien Ämtern

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Titel
Die Reformation in den Freien Ämtern. Beispiel einer gescheiterten Landreformation


Autor(en)
Sauerländer, Dominik
Reihe
Murensia
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
64 S.
von
Patrick Zehnder

Seit 2008 die Reformationsdekade ausgerufen wurde, sind auf verschiedenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Feldern wertvolle Beiträge dazu entstanden. Aus Schweizer Sicht und bezogen auf die Geschichtswissenschaften erwähnenswert ist das Handbuch Die schweizerische Reformation, 2017 herausgegeben von Amy Nelson Burnett und Emidio Campi im Auftrag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. Der neuste Forschungsstand darin stellte eine deutliche Absage an ein kohärentes Reformationsnarrativ dar, was einer Vielzahl von Geschichten schweizerischer Reformationen den Weg ebnete. Zu diesem vielstimmigen Bündel zählt auch das schmale Bändchen von Dominik Sauerländer in der seit 2015 erscheinenden, ambitionierten Reihe Murensia aus dem Umfeld der Stiftung Geschichte Kloster Muri.

Die Publikation behandelt die Entwicklung in den Freien Ämtern entlang von Reuss und Bünz, hauptsächlich die heutigen Aargauer Bezirke Muri und Bremgarten, vom späten Mittelalter bis nach dem Zweiten Kappelerkrieg 1531. Es sind Gebiete, die nach der Eroberung des Aargaus durch die Eidgenossenschaft 1415 als Gemeine Herrschaften gemeinschaftlich regiert und von Landvögten im zweijährlichen Turnus verwaltet wurden. Zur Darstellung der Ereignisse und ihrer Hintergründe bedient sich der Aarauer Historiker Sauerländer älterer Arbeiten, die er im Lichte neuster Forschungsparadigmen in einen grösseren Zusammenhang stellt. Verdienstvoll ist quellenseitig der Beizug der Annales Monasterii Murensis von Anselm Weissenbach und der unveröffentlichten Selbstbiografie des Berner Münsterpfarrers Johannes Wäber. Die Untersuchung bedient sich des Konzepts des Kommunalismus von Peter Blickle und folgt den Erkenntnissen, die Peter Kamber 2010 in seiner Dissertation Reformation als bäuerliche Revolution. Bildersturm, Klosterbesetzungen und Kampf gegen die Leibeigenschaft in Zürich zur Zeit der Reformation dargelegt hatte.

Der erste Teil fokussiert auf die spätmittelalterlichen Voraussetzungen. Es wird gezeigt, wie die eidgenössische Herrschaft in den Freien Ämtern auf der Basis lokaler Selbstverwaltung funktionierte. Die eidgenössische Herrschaftsorganisation blieb rudimentär. Der Landvogt hielt nur dreimal jährlich Gericht, wurde überdies beim Einziehen der Steuern bemerkbar. Einen Landschreiber, mit Sitz beim Kloster Muri, später in der Stadt Bremgarten, gab es vor 1562 nicht. Umso bedeutender waren funktionierende, genossenschaftlich organisierte Bauern- und Kirchgemeinden.

Damit beginnt der zweite Teil, der sich den religiösen und konfessionellen Begebenheiten zuwendet. Schon im 15. Jahrhundert entstand auch in den Dörfern des Untersuchungsgebiets ein Bedürfnis nach mehr Seelsorge und mehr Mitsprache in kirchlichen Angelegenheiten. Dahinter steckt eine Entwicklung zur Kommunalisierung der Kirchen. Die Bauernfamilien verlangten nach einer eigenen Kirche im Dorf. Tatsächlich setzte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein sakraler Bauboom ein. Vielerorts entstanden Kirchen und Kapellen, oft mit prächtigen Bilderzyklen in Form von Freskenmalereien und mit volkstümlichen Kirchenpatronen, wozu zuweilen der Wechsel des Patroziniums (zum Beispiel in Wohlen vom Erzmärtyrer Stephanus zum Viehheiligen Leonhard) gehörte. Die Veränderungen im benachbarten Zürichbiet, die nach 1519 zur Reformation führten, boten den erstarkenden Landgemeinden in den Freien Ämtern die Möglichkeit, ihre Pläne von einer kommunal-territorialen Selbstverwaltung gegenüber feudal-dynastischen Herrschaftsvorstellungen durchzusetzen. Probates Mittel dazu war die Verweigerung von Zehntabgaben. Im Zuge dieser Entwicklung entschieden sich Teile der Oberfreiamts für den neuen Glauben (teils mit geteilten Pfarreien), das Unterfreiamt mehrheitlich, ebenso die Brückenstädte Mellingen und Bremgarten an der Reuss. Aus letzterer stammte Heinrich Bullinger, der in Zürich Nachfolger von Zwingli wurde. Ein weniger bekannter Freiämter Theologe, der zur Reformation beitrug, war der Berner Münsterpfarrer Johannes Wäber aus Merenschwand. Beide verliessen ihre Heimat nach der dort erfolglosen Reformation.

Diesem Scheitern gehört der dritte und letzte Teil. Gegen die Neuerungen wehrten sich die Innerschweizer Orte zuerst vergeblich. Sogar die in Bern und Zürich verfolgten Täuferfamilien fanden in der Gegend um Hägglingen und Dottikon eine zwischenzeitliche Zuflucht. Die von Zürich befeuerte Reformation bewegte sich bis zum Ersten Kappeler Landfrieden 1529 in einem rechtsfreien Raum. In Wohlen, Villmergen, Niederwil, Hägglingen, Wohlenschwil, Göslikon und Bünzen kam es sogar zum Ikonoklasmus, ein Sakrileg in den Augen der altgläubigen Orte. Das Kloster Hermetschwil erlebte einen Klostersturm. Die zweite Schlacht bei Kappel und jene am Gubel im Herbst 1531 wendeten allerdings das Blatt auf dem gesamteidgenössischen Parkett. Zürich und Bern mussten kleinbeigeben. Die Friedensregelung machte den Weg frei für die Rekatholisierung der Dörfer in den Freien Ämtern und auch der Städte Mellingen und Bremgarten, die am längsten bei der neuen Lehre geblieben waren.

Besonders verdienstvoll macht die Publikation von Dominik Sauerländer die konzise Schilderung der konfessionellen Entwicklung in der chaotischen Phase vor und zwischen dem Ersten und dem Zweiten Kappelerkrieg vor dem Hintergrund der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ereignisse jener Jahrzehnte. Aus bereits bestehenden lokalen und regionalen Veröffentlichungen analysiert der gute Kenner der Freiämter Historiographie mit neueren Forschungsansätzen, wie die Innerschweizer Orte sich durchsetzten und weshalb so die Freiämter Reformation scheiterte. Passende Bildquellen unterstreichen die Aussage des Bändchens.

Zitierweise:
Zehnder, Patrick: Rezension zu: Sauerländer, Dominik: Die Reformation in den Freien Ämtern. Beispiel einer gescheiterten Landreformation, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (1), 2022, S. 145-147. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00102>.

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